Corona und Asperger

Oder warum es manchmal auch Vorteile hat, anders zu sein…

Mein Sohn hat eine Autismus Spektrum Störung, genannt Asperger. Bei meiner großen Tochter und mir selbst besteht auch der Verdacht. Und wir alle haben es im normalen Leben nicht leicht.

Aber seit dem ersten Lockdown blühen meine Kinder auf, besonders mein Sohn. Die Schule bedeutet für ihn täglich unglaublichen Stress. Reizüberflutung ohne Ende, viele Menschen um sich herum und keine Ahnung, wie „man“ sich Gleichaltrigen gegenüber verhält, waren nur zwei Aspekte, die ihn immer wieder regelrecht krank gemacht haben. Bei starkem Stress reagiert er körperlich, bekommt extreme Bauchschmerzen, Durchfall, Erbrechen oder Kopfschmerzen. Dadurch hat er enorme Fehlzeiten angesammelt.

Dazu kommt, dass er sehr intelligent ist und sich oft in der Schule langweilt. Gleichzeitig ist er schriftlich eher schlecht, weil ihm das Schreiben mit der Hand so schwer fällt.

Sportunterricht, der wie vor dem jetzigen Lockdown, nur draußen stattfindet und aus Dauerlauf besteht, kann er kaum ertragen. Kein geschützter Raum, fremde Umgebung, zu viele Sinneseindrücke.

Er wurde immer gemobbt, hat sich aber gleichzeitig bewusst zurück gezogen, weil er mit anderen Kindern nichts anfangen kann.

Und er kann es nicht ertragen, immer und immer wieder die gleichen Aufgaben zu wiederholen, auch wenn er sie längst kann. Er lässt sich nicht gerne etwas vorschreiben, wenn er die Notwendigkeit nicht einsieht oder den Grund nicht akzeptieren kann.

Und nun ist Lockdown. Die Schulen sind zu, er ist seit Wochen gesund. Er kümmert sich selbständig um die Erledigung seiner Aufgaben, hält sich an die Abgabetermine und macht alles, wann er es möchte – am liebsten abends oder nachts. Der Stoff fällt ihm total leicht, darum beschäftigt er sich anderweitig. Und er hat noch nie so viel gelernt, wie seit die Schulen zu sind. Gerade hat er angefangen, auf eigene Faust Spanisch zu lernen. Er schaut Dokumentation und liest stundenlang. Alles, was ihn interessiert, speichert er ab und vergisst es auch so schnell nicht mehr. Und ich beobachte ihn fasziniert und denke immer wieder, wie gut es für dieses Kind wäre, wenn in Deutschland Homeschooling erlaubt wäre!

Da er mit anderen Kindern nichts anfangen kann, vermisst er gerade auch nichts. Sein Bruder findet den Lockdown doof, weil er nicht mehr mit Freunden abhängen oder Fußball spielen kann. Er darf sich nicht zum zocken verabreden oder bei Freunden übernachten. Die Klassenkameraden fehlen ihm, und er kann wirklich keinerlei Motivation aufbringen, die Aufgaben für die Schule zu erledigen.

Aber mein Asperger Kind fühlt sich pudelwohl! Endlich wird er nicht mehr schief angeschaut, weil er alleine bleiben will, weil er nicht draußen mit anderen Jugendlichen unterwegs sein will. Bekommt ja keiner mit. Endlich kann er in seinem Tempo lernen und Sachen lernen, die ihn wirklich interessieren. Er empfindet den Lockdown für sich persönlich als positiv.

Und ich denke, dass er da doch wirklich endlich mal einen Vorteil hat gegenüber neurotypischen Menschen. Er käme auch nie auf die Idee, sich nicht an die Corona Regeln zu halten. Er versteht den Sinn, also ist er dabei. Und manchmal denke ich, wenn einige Menschen, die sich zur Zeit in Parks oder im Schnee oder wo auch immer tummeln, nur ein bißchen „Aspi“ wären, dann hätten wir diese Pandemie vielleicht schneller hinter uns.

13 Kommentare zu „Corona und Asperger

  1. Jetzt musste ich doch ein wenig grinsen bei Deinem Beitrag. Schön, dass es Deinem Sohn so gut geht und der Lockdown ihm gut tut. Ja, vielleicht bräuchten wir aktuell ein paar mehr Menschen mit Asperger, andererseits ist die Selbstmordrate bei psychisch kranken Menschen (egal welchen Alters) im Lockdown signifikant gestiegen.

    LG und ein schönes Wochenende
    Babsi

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  2. Was für ein Armutszeugnis für unsere Inklusion, wenn es sich besser an fühlt, allein statt in der „Gemeinschaft“ zu sein, die so gemein sein kann.
    Ich hoffe für ihn, dass er etwas aus der Zeit mitnehmen kann, um später resilienter zu sein in einer inklusionsresistenten Welt.

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    1. …und was, wenn er gar nicht inkludiert werden will, weil ihm diese Reizüberflutungen zusetzen? Zwangsinklusion, oder Förderung des Individuums und dessen Stärken? Klingt hart, aber so wie ich es herauslese, geht es ihm mit wenigen Kontakten besser.
      Natürlich ist ein Leben ohne soziale Interaktionen keines, aber viele Autisten haben halt für die Menge eine eigene Skala und man kann da nichts durch Inklusion ändern.
      Aber Du hast recht! Wenn ihm jetzt jemand hilft, zu bemerken, was sich durch Corona in seinem Leben besser anfühlt, kann er eine Erkenntnis aus dem Nebel der Situationen ziehen und ihm einen Weg zeigen, wie er besser „da draußen“ zurecht kommt.
      Und genau das wünsche ich ihm; nein, ich wünsche es beiden Geschwistern, denn beide bemerken ja durch den Unterschied zu ihrem bisherigen Alltag, was schmerzlich fehlt und was man eher nicht vermisst. 🙂
      🖖🏽

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      1. Ja, vielleicht muss und kann es im Rahmen der Digitalisierung neue Formen der Teilhabe geben, die tatsächlich an den Bedürfnissen des Individuums ausgerichtet ist. Das wäre doch mal ein echter Fortschritt.

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      2. Super Ansatz, finde ich. Teilzeit-Homeschooling und Förderunterricht auch für die, die nicht hinterherhinken, sondern sich in Teilbereichen langweilen.
        Darf ich den Gedanken mal an jemanden, der in der Politik im Bereich Jugend, Schule und Familie arbeitet weiterleiten?

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      3. Na immer. Die digitale Teilnahme könnte eine begabungsfördernde Teilhabe an übergreifenden Projekten aber auch eine behütetet Teilhabe an regulären Angeboten bedeuten. Das wäre eine deutlich Erweiterung der Teilhabe in alle Richtungen.

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      4. Danke! Ich habe schon daran gedacht, ob eine Förderschule für ihn besser wäre. Aber rein kognitiv könnte er da nicht genug „Futter“ bekommen. Seit seiner Diagnose zeigt sich aber, dass er auf eine tolle Schule geht und die Lehrer super und individuell auf ihn eingehen. Dazu schreibe ich bald auch noch einen Beitrag.

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  3. Aspies und Corona ist ein interessantes Thema. Endlich sind die Aspies nicht mehr die „komischen“, die keine Türklinken anfassen und sich an Regeln halten 😉
    Ich habe Kontakt zu einem Asperger und fand es erstaunlich, wie viele Parallelen Dein Artikel aufzeigt (Überforderung, Unterforderung, Handschrift, Soziale-Interaktion), obwohl ja die Ausprägungen sehr individuell sein sollen.
    Deinem anderen Sohn wünsche ich, dass er noch etwas durchhält und es bald ganz ganz warm wird, damit wir die Aerosol-Thematik loswerden.
    🖖🏽 Bleibt alle gesund und gut gelaunt. 🖖🏽

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